Praxis und Problematik betrieblichen Mitbestimmungshandelns in Distanz zu den Gewerkschaften

Basisinformationen:
Projektbeschreibung:

Das deutsche System industrieller Beziehungen ist gekennzeichnet durch die Dualität von Tarifautonomie und Betriebsverfassung. Es hat sich lange Zeit als effizient, stabil und zugleich flexibel erwiesen. Voraussetzung für diesen Erfolg war jedoch, dass die formale Trennung zwischen Betriebs- und Tarifebene durch eine Kooperation von Betriebsräten und Gewerkschaften ‚eingehegt‘ wird. Es existiert Konsens in der einschlägigen Forschung, wonach die funktionale Verschränkung von Mitbestimmungs- und Tarifakteuren eine zentrale Bedingung für ein effizientes Funktionieren des deutschen Systems industrieller Beziehungen ist. Dass diese Bedingung nicht flächendeckend realisiert ist, ist kein historisch neues Phänomen. Verschiedene Entwicklungstendenzen haben in den vergangenen Jahrzehnten jedoch dazu geführt, dass dieses Phänomen an Bedeutung gewinnt: Erstens existiert ein quantitatives Wachstum von eher ‚gewerkschaftsfernen’ Beschäftigtengruppen (v.a. Angestellte) und Wirtschaftsbereichen (v.a. Dienstleistungsbereich). Die Zahl gewerkschaftlich nicht organisierter Betriebsratsmitglieder hat in den vergangenen Jahrzehnten langsam, aber stetig zugenommen. Zweitens existiert ein gewisser Trend zur normativen ‚Entgewerkschaftlichung’ von Betriebsratsarbeit. Angesichts enormer wirtschaftlicher Konkurrenzwänge, aber auch strategischer ‚concession bargaining-’Strategien des Managements orientiert sich Mitbestimmungshandeln vielfach verstärkt an ausschließlich einzelbetrieblich definierten Prämissen. Diese ‚Erosionstendenzen’ der Verschränkung von Mitbestimmung und Tarifautonomie ereignen sich drittens zu einem Zeitpunkt, zu dem die Dezentralisierung des Tarifsystems und gestiegene Anforderungen an betriebliches Mitbestimmungshandeln eine funktionierende Kooperation zwischen Betriebsräten und Gewerkschaften notwendiger denn je erscheinen lässt für die Stabilität und Effizienz des deutschen Systems industrieller Beziehungen.

Über die interessenpolitischen Einstellungen von ‚gewerkschaftlich distanzierten’ Betriebsräten sowie über die Konsequenzen einer mangelhaften Verkopplung von Betriebsrats- und Gewerkschaftsarbeit liegen bislang nur sehr wenig Forschungen vor. Das Forschungsprojekt untersuchte daher die betrieblichen Rahmenbedingungen, die interessenpolitischen Deutungsmuster sowie die zu erwartenden Funktionsprobleme von betrieblichem Mitbestimmungshandeln in Distanz zu den Gewerkschaften. Folgende Fragestellungen sind zentral: Welche normativen Ansprüche verbinden gewerkschaftsferne Betriebsräte mit ihrer Rolle? Wie sehen die Betriebsräte ihre Aufgabe im betrieblichen Sozialgefüge gegenüber Management und Belegschaft? Inwiefern beeinflusst die Nicht-Verfügbarkeit gewerkschaftlicher Hilfestellung die alltägliche Vertretungskompetenz der Betriebsratsgremien? In welchen Branchen, Regionen und Betriebstypen sind gewerkschaftsferne Betriebsräte zu finden? Wie und warum sind diese entstanden und welche Entwicklungsdynamiken sind für sie typisch?

Die Studie untersuchte auf der Basis von 23 ExpertInnengesprächen sowie 73 qualitativen Interviews in 35 Betrieben die Praxis und Problematik von Mitbestimmungshandeln in Distanz zu den Gewerkschaften. Untersucht wurden Betriebsräte in prekären und peripheren Randbereichen gewerkschaftlicher Organisierung (z.B. vergleichsweise junge Branchen, hoch qualifizierte Wissensarbeit, prekärer Dienstleistungssektor, Teile des Baugewerbes), deren Mitglieder mehrheitlich nicht gewerkschaftlich  organisiert sind; aber auch Betriebsräte in tariflichen Kernsektoren (z.B. Metall- und Chemieindustrie), deren Mitbestimmungshandeln deutliche Anzeichen einer normativen Erosion der Verkopplung von Betriebsrats- und Gewerkschaftshandeln aufweist. Es wurden drei typische und relativ stabile Muster gewerkschaftsferner Mitbestimmungskulturen beschrieben (Klein- und Mittelbetriebe mit einer gemeinschaftlichen Sozialordnung; hochqualifizierte Angestelltenbelegschaften; Muster „loser Kopplung“ an die Gewerkschaften) sowie zwei dynamische Muster („Abwehr“ und „Abbruch“).

 

Beteiligte Personen:

Clemens Kraetsch M.A.

Dr. Silke Röbenack

Prof. Dr. Ingrid Artus